www.waldeckischer-geschichtsverein.de ↑
Bd. 97 (2009), S. 197–200
Jahrbuch der Johann-Gottfried-Schnabel-Gesellschaft 2006–2008
(Schnabeliana. Beiträge und Dokumente zu Johann Gottfried Schnabels Leben und Werk und zur Literatur und Geschichte des frühen 18. Jahrhunderts 9), hrsg. im Auftrag der Johann-Gottfried-Schnabel-Gesellschaft von Gerd Schubert, St. Ingbert 2008, ISBN 978-3-86110-452-0, 247 S., 13 Schwarzweiß-Abb., Euro 26,—.
1992 wurde anlässlich des 300. Geburtstages Johann Gottfried Schnabels (1692 bis vor 1760) in Stolberg/Harz eine literarische Gesellschaft gegründet, die das Ziel verfolgt, Leben und Werk des Romanschriftstellers sowie das Umfeld seines Schaffens und Fragen der Rezeption zu erforschen. Dazu gibt die Gesellschaft in Form von Jahrbüchern die Schriftenreihe Schnabeliana heraus, in der Monographien, neuere Forschungsbeiträge und Quellentexte veröffentlicht werden. Mit diesem Konzept leistet sie über die Schnabel-Forschung hinaus einen konstruktiven Beitrag zum interdisziplinären Diskurs, wie das soeben erschienene Jahrbuch 2006–2008 bestätigt, in dessen Mittelpunkt Christian Carl Andrés (1763–1831) Felsenburg, ein sittlichunterhaltendes Lesebuch (Gotha 1788/89) steht, eine in drei Teilen veröffentlichte »Umarbeitung« von Schnabels berühmtem, vierteiligen »Insel Felsenburg«-Roman Wunderliche FATA einiger See-Fahrer (Nordhausen 1731–1743).
Eröffnet wird der Band mit einem Beitrag von Stefan Höppner über »Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg und die Tradition der utopischen Insel« (S. 9–36), in dem der Freiburger Germanist, ausgehend von einer allgemeinen Charakterisierung des Romans als »formale Synthese zwischen Robinsonade und narrativ vermittelter Utopie« (Gerd Schubert, Vorwort, S. 8), den Blick auf das »Neuland« lenkt, das Schnabel mit der hier konstatierten neuen literarischen Form des »utopischen Romans« betritt. Nach drei weiteren Beiträgen, von Axel Wellner über Schnabels Freund, den Goslarer Rektor Gottfried Grosch (zwischen 1700 und 1705 bis vor 1758) (S. 37–56), von Dietrich Grohnert über ein Rezeptionsverhältnis zwischen dem sich »Andreas Speelmann« bezeichnenden Autor von Nil Hammelmanns […] fortgesetzten merckwürdigen Reisen (1747) und Schnabels Wunderlichen FATA (S. 57-72) sowie von Cornelia Ilbrig über »Aufbau und Zerstörung einer Inselwelt in [Johann Karl] Wezels Robinson Krusoe« (S. 73–89), beschreibt Sebastian Schmideler ausführlich Andrés »Insel Felsenburg« als »philanthropische Mädchenschule« (S. 91–190) und schließt einen rezeptionsgeschichtlichen Beitrag mit mehreren Dokumenten der Schnabel-Rezeption an (S. 191–201, 203–235), bevor Gerd Schubert Andrés Kritiker »Ng.« in der Person von Johann Kaspar Friedrich Manso (1759–1826), seinerzeit Lehrer am Gothaer Stadtgymnasium, identifiziert (S. 237–240). Das stattliche Jahrbuch wird mit einem Bericht von Schubert über die neue Johann-Gottfried-Schnabel-Ausstellung im Schloss Stolberg (S. 241–244) sowie Mitglieder- und Autorenverzeichnissen beschlossen.
Sebastian Schmideler, Mitarbeiter an der Felix Mendelssohn Bartholdy-Briefausgabe in Leipzig, greift die Feststellung von Reinhard Stach aus dessen André-Artikel im Lexikon Kinder- und Jugendliteratur (Teil l, 8. Erg.-Lfg., Meitingen, Okt. 1999, S. 5; vgl. in diesem Zusammenhang auch Stachs Hinweis im Art. »Robinsonadcn in der Jugendliteratur«, Teil 5, 7. Erg.-Lfg., Febr. 1999, S. 18) auf, wonach sich der Pädagoge gleichermaßen bleibende Aufmerksamkeit als Mädchenerzieher wie als Bearbeiter von Schnabels Wunderlichen FATA erworben habe (S. 95), und fasst sorgfältig die bisher bekannten Daten zu Christian Carl André als Philanthrop, Jugendschriftsteller, Physiokrat und Volksaufklärer zusammen, bevor er auf »Kontexte« zum Werk und seiner Entstehungsgeschichte eingeht und schließlich Anlage und Struktur seiner Bearbeitung(en) der Schnabelschen Vorlage analysiert. Als Fazit charakterisiert Schmideler »Andrés Konzeption des ›sittlichunterhaltenden Lesebuchs‹ als philanthropische Textsortenverschmelzung«, wobei die »Felsenburg« »als gattungstektonisch interessanter Versuch der Vereinigung einer großen Anzahl von damals üblichen sowie gerade im Entstehen begriffenen spezifischen Textsortenmustern gewissermaßen als ›Gattungsexperiment‹ ›Lesebuch‹ die von Stach apostrophierte ›bleibende Aufmerksamkeit‹« verdiene (S. 178 f.) und die »Insel Felsenburg« als »patriarchalisch-utilitaristische Sittenrepublik« nach dem Vorbild des »Idealphilanthropins« Schnepfenthal im Sinne von Andrés Schwager Christian Gotthilf Salzmann (1744–1811) zu sehen sei (S. 181). Das »Lesebuch« könne – so Schmideler im Anschluss an Reinhart Siegert und Holger Böning – vor dem Hintergrund des Diskurses über die »Emanzipative Aufklärung« in der Tat als »herausragendes Beispiel für die typische ›Erweiterung des Zielgruppenspektrums‹ gekennzeichnet« werden, die »innerhalb des Höhepunkts der Volksaufklärung« auch Frauen »als große Zielgruppe« entdecke (S. 181). Allerdings stieß Christian Carl Andrés philanthropische »Umarbeitung« aus verschiedenen Gründen bei den Kritikern einhellig auf Ablehnung und hätte wohl kaum größeres Aufsehen erregt, wenn nicht 1789/90 in Friedrich Nicolais Allgemeiner deutscher Bibliothek zwischen dem Autor und dem Gothaer Rezensenten Manso eine literarische Fehde ausgetragen worden wäre, bei der letzterer der philanthropischen Bewegung indirekt die Berechtigung absprach, »das pädagogische Alleinstellungsmerkmal einer innovativen Erziehung zu sein« (S. 195), was André zu bemerkenswerter Polemik herausforderte – möglicherweise mit ein Grund dafür, dass er von der Publikation eines vierten Teils absah. Gerade wegen der Schärfe der literarischen Auseinandersetzung wird in dieser Kontroverse jedoch ein ungewöhnliches Zeugnis der zeitgenössischen Diskussion über den Philanthropismus Salzmannscher Prägung gesehen.
Der Beitrag von Sebastian Schmideler macht erneut deutlich, wie sehr in das Netzwerk von Freimaurern, Philanthropen und Volksaufklärern Andrés Gönner Fürst Friedrich von Waldeck (1750–1812) und Friedrich Albrecht von Wechmar (1742–1813) eingebunden waren. So regt die breit angelegte, gründlich recherchierte, systematisch konsequente und flüssig zu lesende Studie über Aspekte der Schnabel- und »Insel Felsenburg«- sowie der Mädchenerziehungs- und Genderforschung hinaus auch zu weiterem Nachdenken über die Voraussetzungen und Folgen von Christian Carl Andrés pädagogischer Tätigkeit in Arolsen von 1783 bis 1785 und die Kontakte zu seinen Arolser Schülern und deren Familien in den folgenden Jahren in Schnepfenthal an. Gerta Beaucamps »wegweisender« (S. 96, Anm. 16) Aufsatz über André in den Gbll Waldeck 78 (l990) sowie die hieran anschließenden Arbeiten von Hans-Rudolf Ruppel und Friedhelm Brusniak (seit 2003) werden aufgegriffen und weitergeführt (vgl. zu Anton Richters Porträt von Christian Carl André S. 95, Anm. 12, zu Andrés Kinderliteratur-Empfehlungen bzw. Auswahl an pädagogischer Literatur bes. S. 143, dazu S. 221 f., zu seiner Johann Gottlieb Naumann-Begeistcrung S. 132, zu Liedersingen und Klavierspielen sowie zum Klavierbau bes. S. 142, 155, 178, dazu S. 222, 225).
Dem Autor ist grundsätzlich zuzustimmen, wenn er Christian Carl Andrés publizistisches und pädagogisches Engagement vor dem Hintergrund des volksaufklärerischen Erziehungsideals Herzog Ernsts II. von Sachsen-Gotha-Altenburg (1745–1804) »ausdrücklich als einen solchen Beitrag zur Verbesserung und Vervollkommnung des Menschengeschlechts durch Erziehung« würdigt, denn André wollte mit seinem »sittlichunterhaltenden Lesebuch« gezielt »einen Erziehungsbeitrag im Sinne der Volksaufklärung von Jugend und Volk leisten« (S. 107 f.). Hier die entscheidenden religions- und geistesgeschichtlichen, bildungs- und kulturpolitischen, pädagogischen und methodischen Ansätze und Bearbeitungsmethoden des Freimaurers und Philanthropen in den Blick genommen und herausgearbeitet, zugleich aber auch die Abwehrreaktionen und Kritik der Zeitgenossen nachvollziehbar und verständlich gemacht zu haben, ist ein besonderes Verdienst der innovativen Studie einschließlich des wichtigen Dokumentenanhangs, die die schon seit Jahren erhobene Forderung nach einer umfassenden, interdisziplinär angelegten Auseinandersetzung mit André nachdrücklich unterstreicht (S. 103 f.).
Friedhelm Brusniak, Würzburg