Insel Felsenburg

Nachruf
für Dr. Gerd Schubert (1960 – 2022)

seit 1992 Vorsitzender der Johann-Gottfried-Schnabel-Gesellschaft

In seinem berühmten, noch immer bewegenden Streitgespräch »Der Ackermann aus Böhmen« gibt Johannes von Saaz dem klagenden Bauern die Ehre, dem angeklagten Tod aber die Macht über Leben und Sterben. »klager, habe ere, Tot, habe sige«, verkündet Gott am Ende der Disputation: Der Mensch muss sterben, aber nichts von dem, was sein Leben ausmacht, wird damit zurückgenommen. Die Ehre des Menschen ist gewahrt. – Was Johannes von Saaz um 1400, im späten Mittelalter, niedergeschrieben hat, gilt noch heute, im 21. Jahrhundert. Der Landmann beklagt den frühen Tod seiner Frau. Warum? fragt er. Warum schon jetzt? Wir, die Mitglieder und Freunde der Johann-Gottfried-Schnabel-Gesellschaft, beklagen den Tod unseres Vorsitzenden, Dr. Gerd Schubert, der am 2. Februar 2022 plötzlich und viel zu früh verstorben ist. Warum? fragen auch wir, obwohl wir wissen, dass keiner eine Antwort geben kann. So wollen wir Gerd Schubert ehren, indem wir uns erinnern, indem wir auf ihn und sein Œuvre zurückblicken. Noch kreisen seine Gedanken in unseren Köpfen. Noch ›hören‹ wir ihn reden und streiten und lachen. Möge das lange so bleiben.


Asteriscus
 

Am 7. November 1992 versammelte sich im Stolberger Schloss eine festlich gestimmte Gemeinschaft: Stolberger Bürger (unter ihnen Bürgermeister Franke und Pfarrer Sehmsdorf), angereiste Literaturwissenschaftler, Graf und Gräfin Stolberg-Stolberg, der Maler Langer und viele Wissbegierige nahmen an einer Gedenkfeier für Johann Gottfried Schnabel teil. Die Feier galt dem 300. Geburtstag Schnabels, der – 1692 in Sandersdorf geboren – den entscheidenden Teil seines Lebens in Stolberg gelebt hatte. Hier war er Kammerdiener, Zeitungsredakteur, vor allem aber ein Schriftsteller von überregionaler Bedeutung. Sein vierbändiger Roman »Die Insel Felsenburg« gilt als ein Hauptwerk der deutschen Frühaufklärung. Trotz dieser Leistungen und ihrer breiten Rezeption im 18. und 19. Jahrhundert blieb Schnabel ein Stiefkind der Literaturwissenschaft. Erst Arno Schmidt und Hans Mayer eröffneten um 1950 eine neue Sicht auf den Mann, der sich als Schriftsteller Gisander nannte. – Ina Lauterbach, damals eine junge Stolbergerin, gab den Impuls zu der Veranstaltung, die vermutlich die größte Ehrung war, die Schnabel je erfahren hatte. Ina Lauterbach – heute Ina Mencke – hatte während ihres Studiums in Erfurt durch Professor Grohnert von Schnabel erfahren. Sie initiierte das festliche Treffen, bei dem Dietrich Grohnert die Gedenkrede hielt. – Nach der Feier traf sich ein Teil der Besucher (man ist versucht zu sagen: der harte Kern) im »Kanzler«. Hier wurde die Johann-Gottfried-Schnabel-Gesellschaft gegründet! Vorsitzender wurde der damals 31-jährige (West)Berliner Gerd Schubert, M. A. Den Vorschlag, eine literarische Gesellschaft unter dem Namen Schnabels zu gründen, hatte Schubert selbst in seinem Redebeitrag unterbreitet. Was niemand voraussehen konnte, war die Lebensfähigkeit der Gesellschaft. Übersteht sie das erste Jahr? Und das zweite?! Nun, in diesem Jahr wird sie 30; Gerd Schubert war und blieb ihr einziger Vorsitzender. Bis zu seinem Tode.


Asteriscus
 

Gerd Schubert 2010, Foto: Ina Mencke Gerd Schubert kam aus Norddeutschland. Der Vater, schwer kriegsversehrt, war Landwirt, und dem Sohn wurde nicht an der Wiege gesungen, dass er sich einmal mit Literatur und Philosophie befassen würde. Er durchlief die üblichen Stationen: Schule, Zivildienst, dann Studium an der Freien Universität Berlin: Philosophie bei Ernst Tugendhat, daneben Psychologie und Soziologie, als Zweitstudium Skandinavistik. Aber was dann? Philosophie ist kein Beruf, die Wahl fiel schwer; Gerd Schubert entschied sich für J. F. Lehmanns Fachbuchhandlung, wo er für die ausländischen Zeitschriften zuständig war. Er bewohnte zuletzt zwei kleine Hinterhofwohnungen in Neukölln, allein mit Tausenden Büchern. Er hatte kein Telefon und keinen Internet-Anschluss. Er arbeitete verkürzt, nur für das Lebensnotwendige. Er lebte nicht mönchisch, aber sehr bescheiden – fast nur für seine wissenschaftlichen Interessen. Vielleicht hatte er das, wovon viele andere nur träumen: ein selbstbestimmtes Leben.


Asteriscus
 

Den eifrigsten Schnabel-Forschern war der Name Schubert schon vor dem November 1992 begegnet. Schubert hatte unter dem Titel »Der Wein von Tristan da Cunha« einen Aufsatz veröffentlicht, in dem er Arno Schmidts These, die Südseeinsel Tristan da Cunha könne das Vorbild für die Insel Felsenburg sein, überzeugend widerlegte. Es war ein lustvoller Aufsatz: gründlich recherchiert, schlüssig formuliert, geschrieben mit spürbarem Vergnügen an der Attacke gegen eine (unbezweifelte!) Autorität. Das Grundmuster dieses Aufsatzes wird in 30 Jahren immer wieder aufscheinen. –

Der Vorsitzende Schubert war stets auch der produktivste Vertreter der Gesellschaft. In den »Schnabeliana«, dem unregelmäßig erscheinenden Jahrbuch, sind alle seine Arbeiten veröffentlicht. Ihr Beitrag zur Forschung wurde 2019 von der FU Berlin mit der Promotion zum Dr. phil. gewürdigt. Dass Schuberts Interessen weiter gespannt waren, beweist seine Beschäftigung mit der Science-fiction-Literatur, belegt aber auch der Band »Hohlwelten« (2009, mit Hartmut Fischer).

Die (bisher 12) Bände der »Schnabeliana« sind der geheime Schatz der Gesellschaft. Sie widerspiegeln 30 Jahre Forschung. Vielstimmig und in fast unerschöpflicher thematischer Vielfalt nähern sie sich Schnabel und seiner Zeit. – Schubert war kein Mann, der sein Licht untern Scheffel stellte. Er vertrat die Gesellschaft in vielen Veranstaltungen und erweiterte ihren Radius. Beiträge und Besuche gab es u.a. aus Frankreich und sogar aus Japan.

Wenn man sich vergegenwärtigt, dass Gerd Schubert jeden Beitrag selbst redigierte, dass er den Briefwechsel mit den Referenten führte (und dabei nicht einmal eine Sekretärin zu Hilfe rufen konnte), dass er mit Verlagen diskutierte und mit Geldgebern feilschte, erkennt man die Selbstlosigkeit und Hingabe an die alle vier Jahre nach Wiederwahl als Vorsitzender erneut übernommene Aufgabe. Dabei war Gerd Schubert kein Gutmensch, der für alles einen Ausgleich suchte. Sein Urteil konnte schroff, sein Verhalten rücksichtslos sein. Er bestand auf seiner Sicht! Schon in seiner ersten Stolberger Rede erscheint Schnabel als »historiographischer Schriftsteller«, ein Beiwort, das Fragen und teils heftigen Widerspruch auslöste. Schubert grenzte sich von Literaturwissenschaftlern ab, die nur einen Text befragen: Er durchforschte das Umfeld von Leben und Werk und suchte »eine Eigenheit derer, die Röcke webten.«


Asteriscus
 

Eine literarische Gesellschaft ist kein Forscherteam, das sich einer gemeinsamen Aufgabe verschrieben hat. Da ist der Zahnarzt, der ein Jugendfreund des Vorsitzenden ist und deshalb dessen Einladung gefolgt ist. Da ist die Lehrerin, die beglückt genießt, wie ein Literaturgespräch ohne Erziehungsziel und Bildungsziel auskommen kann. Da ist das Ehepaar, das sich gerade den »Kavalier« vorgelesen und einige Fragen hat, die es nicht stellen wird. Die etwa 60 Mitglieder der Johann-Gottfried-Schnabel-Gesellschaft, von denen etwa 30 zu den Novembertagungen nach Stolberg kommen, haben unterschiedliche Voraussetzungen und sehr verschiedene Interessen. Auch die jährliche Freude an den Stolberger Lerchen gehört dazu. Vom Vorsitzenden wird nicht nur Sachkenntnis in der Hauptsache, sondern auch Einfallsreichtum für das ›Beiprogramm‹ erwartet. Gerd Schubert war auch darin vorbildlich. Vom literarisch-kulinarischen Abend im kleinen Stolberger Anderswelt Theater über die literarisch-musikalischen Abendprogramme, die Hanns H. F. Schmidt gestaltete, bis hin zu gemeinsamen Ausfahrten, etwa nach Querfurt, gab es eine Fülle anregender Unternehmungen. Man kommt sich näher, man begegnet sich im Gespräch.

Die Schnabel-Gesellschaft hat sich in 30 Jahren gewandelt. Sie hat etwas vorzuweisen. Es gab Jahre, da tagte sie im Feuerwehrhaus, heute ist der Große Saal im Schloss reserviert. Mehrere Mitglieder sind für immer abgerufen worden, ich denke an das Ehepaar Schmidt und den Stolberger Maler Bernhard Langer. Nun ist Gerd Schubert gegangen, ›plötzlich und unerwartet‹, wie man so sagt. Ob und wie die Schnabel-Gesellschaft das verarbeiten kann, vermag heute noch niemand zu sagen. Gerd Schubert war nicht nur Mitglied, er war für viele das Synonym der Gesellschaft. Unsere Anteilnahme gilt seiner Lebensgefährtin Gabi, die inzwischen Frau Dr. Gabriele Leschke ist, und seinem Sohn Mátyás, dessen Mutter Zsóka einst mit uns in der Runde gesessen hat.

Wir verabschieden uns von Dr. Gerd Schubert. Wir danken ihm. Und wir danken Johann Gottfried Schnabel, der uns zusammengeführt hat.

Wir haben einen Freund verloren.

Peter Gugisch
im Namen der Johann-Gottfried-Schnabel-Gesellschaft